Sturzenegger-Stiftung 2006, Jahresbericht/Neuankäufe

Naturformen – geformte Natur

Gebäudearbeit – Entwurf zu einem Wandgemälde
Eine Figurenzeichnung umreisst mit Rund-, Spiral-, Rechteck- und unregelmässigen Formen einen Skulpturenraum. Zehn einzelnen „Bauteilen“ sind zudem verschiedene Räumqualitäten zugewiesen. Das ganze Gebilde dominiert der runde „Kopfraum“. In absteigender Folge nach unten erscheinen der „Raum zum Essen“, „Mein Raum“, „kristalliner Raum“, „Schlafraum Herz“, „Lichtraum“, „offener Raum – gemeinsam“, „Liebesraum Bauch“, „Feuerraum“ und „Erdraum“ (Abb. 1). Diese Skizze gilt in erster Linie der Zuweisung der jeweiligen Räume im Gesamtgefüge, die teilweise mit den adäquaten Körper- beziehungsweise Gefässteilen korrespondieren und so im Formen- und Liniengefüge etabliert werden.
In einem zweiten Schritt werden diesen Räumen gewissermassen aus dem Gefüge losgelöst und mit einer ganz spezifischen Pflanze versehen, die jeweils hell lasierend auf einem unregelmässigen, grünen Grund aufgetragen wird. Die auf einer Fotografie arrangierten „Räume“ sind nun von folgende Pflanzen- oder Samenteile belegt: Im Kopfraum nistet die Bohne, im Schlafraum das Weizenkorn, im Raum zum Essen das Ulmenblatt, in Herzraum der Wiesensalbei, im kristallinen Raum der Rizinussamen, im offenen, gemeinsamen Raum das Mutterkorn, im Lichtraum die Sauerkirsche, im Liebesraum der Apfel, im Erdraum die Kartoffel und im Feuerraum der Sauerklee (Abb. 2-11).
Die einzelnen Pflanzenstudien basieren auf der genauen Beobachtung der Künstlerin, die sich seit den frühen 90er Jahren ausgiebig damit befasst und unermüdlich die nähere und weitere Umgebung nicht nur zeichnerisch festhält, sondern buchstäblich unter die Lupe nimmt. Das will heissen, sie begnügt sich nicht damit, die vorgefundenen Blumen, Kräuter und Gräser zeichnerisch oder fotografisch festzuhalten. Das bedeutet lediglich einen ersten Schritt. Danach beginnt eine umfassende Recherche anhand botanischer Abhandlungen und Lexika, welche den Pflanzen und ihrer historischen Bedeutung wie auch ihrer spezifischen Wirksamkeit nachgeht. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse dienen nicht allein dem Wissen um der jeweiligen Bedeutung. Es sind gerade auch die Detailzeichnungen, Querschnittstudien und schematischen Skizzen, welche der Künstlerinüber das Verständnis hinaus der Bereicherung der eigenen Formensprache dienen. „Ohne einen wissenschaftlichen Anspruch zu erheben, nimmt Barbara M. Meyer das visuelle Material als Ausgangspunkt für ihre künstlerische Auseinandersetzung, welche sich im Spannungsbereich zwischen Gegenständlichem, Natürlichem, Stilisiertem, künstlich Wirkendem entfaltet bzw. schlichtweg aus der atmosphärischen Grundstimmung zwischen diesen beiden, auf künstlerischer Ebene vereinten Gegenpolen erwächst.“i
Gerade dieses Oszillieren zwischen Natürlichem und Stilisiertem, macht aus diesen, auf den ersten Blick so unspektakulär scheinenden Arbeiten, faszinierende Gebilde. Was die „Gebäudearbeit“ darüber hinaus auszeichnet, ist das Integrieren der einzelnen Teile in einen eigenwilligen Kosmos, der zentrale Organe der menschlichen Figur jenen Pflanzen zuordnet, die in ihrer Heilkraft auf das Wohlbefinden der Körper/Raumteile positiv einwirken oder dieses sogar zu steigern vermögen. Nicht zuletzt bezeichnen einzelne Räume auch Elemente wie Feuer und Erde oder andere Naturphänomene wie Licht, Kristalle und auch Gefühle wie Liebe. Die bewusste Verkettung dieser unterschiedlichen Qualitäten hat aber nichts mit Pseudowissenschaftlichkeit zu tun, sondern steht für eine ganzheitliche Sehweise des Universums, das im Abbild immer nur als kleiner Teil eines Ganzen und somit bruchstückhaft wiedergegeben werden kann. Das wiederum ermöglicht dem Betrachtenden einen individuellen Zugang und die Freiheit, sich seine eigenen Wege durch diesen Kosmos zu bahnen.
Vor dieser Wandarbeit entstanden in den späten 80er Jahren Reliefarbeiten mit Plastikpflanzen. Dabei ging es der Künstlerin aber noch nicht um ein genaues Pflanzenstudium, wohl aber um Pflanzen und Geometrie beziehungsweise um Räumlichkeit. Bereits hier wurde die Pflanze mit Raum, mit organischem Raum gleichgesetzt. Damit einher ging der Wunsch, solche Räume zu bauen, was mit der „Gebäudearbeit“ auf der Konzeptstufe denn auch verwirklicht wurde. Bestrebungen, Körperräume zu bauen, sind nicht neu. Bereits im Jugendstil wurden solche Ideen formuliert und auch teilweise umgesetzt. Vor allem in den Bauten eines Antonio Gaudi fanden sie ihre wohl konsequenteste Ausformulierung. Rudolf Steiner und die Anthroposophen und nicht zuletzt das Bauhaus nahmen den Körper als Grundlage und Ausgangspunkt für die Planung und Umsetzung von Wohnraum.Diese Auseinandersetzung mit dem Raum fliesst nun ein in die Wandmalerei, mit dem nicht unerheblichen Unterschied, dass der Raum hier vorgegeben ist und nicht mehr selbst kreiert werden kann. Das bedingt eine andere Form des Zugangs respektive sich Einlassens auf die vorgegeben Situation. So erstaunt es wenig, dass folgerichtig die „räumliche“ Arbeit nicht den vorgegeben Raum betrifft, sondern die Projektion auf diesen Raum. Das was in der „Gebäudearbeit“ schon markant zum Tragen kommt, nämlich die Räumlichkeit der Pflanzen, die reliefartig geschichtet erscheinen, wird in der Wandmalerei intensiviert. So entsteht eine subtile Räumlichkeit auf der Fläche.

Pflanzenbilder

Aus dem Jahr 1992 stammt eine grössere Serie an Rötelzeichnungen, welche die Wurzeln, die Blätter, den Blütenstand, die Frucht und den Samen der jeweiligen Pflanze darstellen (Abb. 12-28). Mit leichten Strichen, die sich an bestimmten Stellen verdichten, entstehen kleine, delikate Werke, die in ihrer vergänglich, flüchtigen Art sehr präsent wirken. Und, obwohl genau nach der Natur gezeichnet, vermitteln sie durch das gerade so arrangierte Neben-, Mit- und Ineinander der Formen den Eindruck von künstlich konstruierten Gebilden.

Seit 1991 setzt sich Barbara Meyer mit Pflanzen auseinander. Als sie sich ernsthaft dafür zu interessieren begann, nahm sie jene Gewächse unter die Lupe, die im Umfeld ihres Ateliers gediehen und blühten. Dabei stellte sie überrascht fest, das alles Wildpflanzen und mit ganz wenigen Ausnahmen Heilpflanzen waren. Die Faszination für diese Gattung ist geblieben. Die Bedeutung der jeweiligen Pflanze war genauso wichtig wie ihre Form. So befasste sich die Künstlerin auch mit dem Werk von Paracelsus (1493-1541), Pfarrer Johannes Künzle (1857-1945) und Hildegard von Bingen (um 1098-1179). Dabei lernte sie Erstaunliches wie beispielsweise, dass der aus der Pflanze gewonnene Ursaft durch das Verdünnen immer wirkungsvoller wurde. Teilweise auch deswegen, weil Säfte in hoher Konzentration giftig sein konnten, in der geeigneten Verdünnung dagegen ein Heilmittel. Darin sieht sie eine Parallele zur Kunst. Von ihren Betrachtungen der Pflanzen ausgehend, die sie in der Vergrösserung genau beobachtet, so auch zu Papier bringt und konstatiert, dass diese durch die Distanz, geschaffen durch die Vergrösserung, abstrakter wirken. Dennoch bleibt die Pflanze immer der eigentliche Ausgangspunkt, die immer wieder aus einem neuen Blickwinkel betrachtet und aufgezeichnet wird. Das heisst aber nicht einfach abgemalt, um dann als erkannt schliesslich ins Herbarium ad acta gelegt zu werden. Ursache und Wirkung, auch im übertragenen Sinne, zu untersuchen, bleibt das angestrebte Ziel.

Bei der vorliegenden Serie von Rötelzeichnungen war die Grundlage eine botanische Abhandlung. Studiert wurden nun die einzelnen Teile. Aber auch bei der Zerlegung der Pflanze in einzelne Teile und ihrer Wiedergabe in der Vergrösserung und Detailausschnitten, der Bezug zum Ganzen bleibt gewahrt und offensichtlich. Es werden lediglich andere, neue Beziehungen aufgezeigt. So dient die Vergrösserung des pflanzlichen Mikrokosmos letztlich dazu, um hinter die Geheimnisse ihrer Grundstrukturen zu kommen. Dadurch wird auch eine der Pflanze jeweils eigene immanente Ästhetik sichtbar gemacht. Darüber hinaus sind es immer auch Gefässe, eben wieder Räume in Form von Samen, Blüten, Früchten, Stempel, Wurzeln und Blättern. Und nicht zuletzt sind es jeweils die männlichen und weiblichen Merkmale, die herausgegriffen und thematisiert werden. ii
Damit erklärt sich auch die Bedeutung dieser Blätter: Sie sind das Studienmaterial, der Fundus aus dem die Künstlerin schöpft, sei es für die grossen Wandarbeiten oder für ihre Tafelbilder. Solche Studien werden stetig geschaffen. Sie können ganz genau gezeichnet sein oder bereits mehr oder weniger abstrahierte Formen wiedergeben. Immer aber sind diese Blätter von einer ganz eigenen Präsenz und Sinnlichkeit, die sie auch als eigenständige Kunstwerke auszeichnen. Dr. Hortensia von Roda, Kuratorin, Geschäftsführerin

i Sabine Schaschl-Cooper, in: Barbara M. Meyer, Nachtschatten. Ausst.Kat. Kunsthaus Baselland, Muttenz 2006, ohne Seitenzahl.
ii Hortensia von Roda im Gespräch mit der Künstlerin am 15. Februar 2007.